Dr. Klaus Buchenau

 

 

Gutes Europa, böses Europa. Philosophische Konstrukte in praktischer Anwendung

 

Nikolaj Velimirović verkündete von den britischen Bühnen und Kanzeln immer wieder Weite, Breite und Tiefe. Sein zentrales Konstrukt in diesen Jahren war der „Allmensch” (svečovek), der bei Velimirović für alles Gute stand, wogegen der „Übermensch” (natčo­vek) das böse Prinzip verkörperte.[1] Das Kriegsgeschehen interpretierte er als Kampf des Allmenschen gegen den Übermenschen, wobei er das allmenschliche Prinzip vor allem auf der Seite der Slawen (außer Bulgarien) sowie bei den Angelsachsen sah. Der Übermensch dagegen sei bei den Mittelmächten am Werk, aber auch bei anderen Feinden Serbiens. Velimirović postulierte seine Dichotomie sowohl für die Gegenwart wie auch für die Ver­gangenheit – schon bei der Kosovo-Schlacht 1389 hatten sich angeblich serbische Allmen­schen und osmanische Übermenschen gegenüber gestanden.[2]

Velimirović versuchte seinen Zuhörern die Orthodoxie nahe zu bringen, erwähnte den Gottmenschen aber nie – dieses Konzept schien ihm offenbar zu eng orthodox, um ein westliches Publikum für sich gewinnen zu können. Anders beim Allmenschen. Hier han­delte es sich um eine synthetische Idee, deren Wurzeln in die Orthodoxie, aber auch in indische und fernöstliche Mystik führten und die von daher offener für Nichtorthodoxe war. Fedor Dostoevskij und Vladimir Solov’ev waren wohl die ersten, die den Begriff verwen­deten, ohne ihn aber zu definieren. Sie setzten ihn dem „Übermenschen” entgegen, einer ähnlich alten Idee mit ähnlich verzweigten Wurzeln. Friedrich Nietzsche hatte in seinem Werk „Menschliches, Allzumenschliches” (1878) daraus ein Konzept gemacht und dieses in „Also sprach Zarathustra” (1883–1885) weiter vertieft. In Nietzsches Philosophie kam dem Übermenschen die Rolle zu, aus sich selbst heraus neue Werte zu schöpfen, nachdem der Nihilismus die transzendenten Werte und Gewissheiten zerstört hatte. Mit diesem Kon­zept feierte Nietzsche willensstarke Männer wie Napoleon; ihr Streben nach Größe und eigenständiger Wertsetzung stand für ihn ungleich höher als das Maßhalten des Durch­schnittsmenschen. Religiöser Glaube war in dieser Konzeption Zeichen von Schwäche und Mittelmäßigkeit, in seinem Werk „Der Antichrist” (1887) warf er dem Christentum vor, es habe „die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißrathnen genommen” und suche zu ver­hindern, dass der Mensch zu seiner wahren Größe, und damit zum Übermenschentum finde.[3]

Die orthodoxen Denker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts lasen Nietzsche ganz anders als etwa das deutsche Bürgertum. Für die konservative Elite des wilhelmini­schen Kaiserreichs war Nietzsche vor allem ein antiwestlicher Philosoph, der die Verlo­genheit und Mittelmäßigkeit der europäischen Zivilisation durchschaut hatte. Auch wenn Nietzsche selbst seinen Übermenschen nicht als rassische, sondern individuelle Kategorie betrachtete, nahm man seine Philosophie als spezifisch „eigenen”, deutschen Aufstand gegen die Moderne wahr. In der Weimarer Zeit wurde Nietzsche zum zentralen Bezugs­punkt für die Ideologen der ‚Konservativen Revolution’, die weg wollten von Kapitalismus und Rationalismus und hin zu heroischen Idealen, die mitunter auch sakrale Komponenten mit einschlossen.[4] Velimirović wie auch andere orthodoxe Denker empfanden Nietzsche in erster Linie als Atheisten. Sein Übermensch war für sie die Inkarnation westlichen Stol­zes, ein Synonym für den „Menschgott” (čovekobog), und daher eine Fortsetzung papisti­scher Verirrun­gen. In seiner Londoner Zeit geißelte Velimirović den „politischen Nietz­scheanismus”. Die Historiker Heinrich v. Treitschke und Theodor v. Bernhardi sah er als wichtigste Theoreti­ker dieser Richtung an, während Kaiser Wilhelm II. und die preußischen Junker sich um die praktische Ausführung gekümmert hätten.[5]

Der Allmensch stand dagegen bei Velimirović für religiösen Glauben, Demut, Solida­ri­tät und Erlösung. Immer wieder verwies er auf Russland und Dostoevskij, ohne aber dem Konzept allzu eindeutige slawisch-orthodoxe Züge zu geben – hier wirkte sich Velimiro­vićs Zusammenarbeit mit dem Philosophen Dimitrije Mitrinović aus, einem Sozialutopiker und Ideologen der nationalistischen Jugendorganisation Mlada Bosna. Als einer der weni­gen Serben seiner Zeit kannte sich Mitrinović in der indischen Mystik aus und gab sein Wissen an Velimirović weiter. So gesellte sich in den Londoner Vorlesungen des Theolo­gen das indische Mythenwesen Ananda Vran Gavran zu Jesus Christus und den Slawen.[6]

Dank der vielen Quellen blieb vieles im Unklaren. Während das Gottmenschentum klar die Christusnachfolge des Menschen meint, also die orthodox-monastische Tradition der Annäherung an Gott durch Demut, Gebet und Askese, konnte Velimirovićs Allmensch bzw. Allmenschentum sehr viel mehr sein – mal verwies der Begriff auf eine zukünftige gemeinsame Religion aller Slawen, mal auf eine neue, gerechte und von bislang unter­drückten Völkern geprägte Weltordnung, mal auf eine in Liebe verbrüderte Menschheit, mal auf Jesus Christus, mal auf alle positiven Impulse im Menschen.[7]

Die Schwammigkeit hatte praktische Vorteile. Denn hier konnte slawischer und ortho­doxer Messianismus eingeführt werden, ohne Europa pauschal abzulehnen oder Nichtor­thodoxe gegen sich aufzubringen. Das serbische nationale Projekt, um das es dem Prediger-Diplomaten vorrangig ging, erhielt eine globale Dimension. Es verlor seinen provinziellen Charakter und wurde in der Vorstellungswelt der imperial denkenden britischen Elite über­setzt.[8] Die britische oder US-amerikanische Gesellschaft wurden, trotz ihres westlichen Ursprungs, aus dem Allmenschentum nicht von vornherein ausgeschlossen, William Shakespeare galt dem Theologen sogar als Prototyp des Allmenschen und prägende Kraft des British Empire. In einer Shakespeare gewidmeten Predigt heißt es:

„Ich kenne Shakes­peare nicht, und ich kann ihn auch gar nicht kennen. Aber er kennt mich, er hat mich be­schrieben, er hat alle Geheimnisse meiner Seele gemalt. (…) Ja, ich erkenne mich in ihm wieder (…). Der Weg des britischen Volkes führt nicht zum Übermenschen, sondern zum Allmenschen. Es hat die Shakespearsche Fähigkeit, aus seiner Seele hinauszugehen und die Seele eines Ausländers anzunehmen. Es versteht die Verschiedenheit der Geister.”[9]

Velimirović bestand auf dem Unterschied zwischen den angelsächsischen Ländern und den ‚nietzscheanischen’ Mächten Kontinentaleuropas, denen er Intoleranz, Gottlosigkeit und Gewalttätigkeit zuschrieb. Den Verbündeten Frankreich, Mutterland des Laizismus und der modernen Religionskritik, umging er in der Regel mit Schweigen. England und die USA lobte er als christliche Staaten; auch mit dem britischen Imperialismus konnte er sich anfreunden, indem er ihn als christliche und zivilisatorische Mission deutete.[10]

Zentral für die Konstruktion der serbisch-angelsächsischen Sonderbeziehung war der ‚demokratische Mythos’. Velimirović sah Serbien ganz im Sinne der radikalen Tradition als urwüchsige, natürliche Demokratie an und ging daher von einer selbstverständlichen Partnerschaft mit den demokratisch verfassten Ländern Großbritannien und den USA aus. Dabei betonte er, dass die serbische Demokratie mehr dem amerikanischen Typus ähnele. Beide seien aus dem Widerspruch gegenüber Europa entstanden, erst die amerikanische aus Protest gegen religiöse Intoleranz in Europa, dann die serbische aus Protest gegen die euro­päische Gleichgültigkeit gegenüber den unterdrückten Balkanchristen. Schon vor der natio­nalen Befreiung sei die serbische Gesellschaft demokratisch gewesen. Als man sich dann ohne westliche Hilfe einen Staat erkämpft habe, sei dieser auf ganz natürliche Weise zu einer Demokratie geworden. Ähnlich bei den US-Amerikanern. Sie hätten die Erfahrung sozialer und religiöser Unterdrückung mit in das neue Land gebracht und eine demokrati­sche, freiheitliche Gegenzivilisation aufgebaut.[11]

1923, als Velimirović bereits Bischof von Ochrid war und mehr zu orthodoxer Aus­schließlichkeit neigte, veröffentlichte er in der von Justin Popović redigierten Zeitschrift Hrišćanski život einen Artikel mit dem Titel „Die angelsächsischen Politiker und der Glaube”. Deutlicher als irgendwo sonst machte er hier klar, was ihn aus religiöser Sicht an den USA und England beeindruckte. Vor allem die Vereinigten Staaten lobte er für ihre Zivilreligion – sie hätten es als moderner Staat verstanden, das Christentum in den öffentli­chen Raum zu integrieren. Im Gegensatz zu Kontinentaleuropa, wo Velimirović überall Laizismus und Säkularismus am Werk sah, seien die amerikanischen Präsidenten stets gläubige Menschen und praktizierende Christen gewesen, hätten das auch öffentlich zum Ausdruck gebracht und seien von den Wählern dafür mit Zustimmung belohnt worden. In diesem Zusammenhang erinnerte er nicht nur an Gründungsväter wie George Washington und Abraham Lincoln, sondern auch an Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson. Als Folge habe sich der Glaube in der Gesellschaft besser bewahrt, sei die Bibel weiter ver­breitet als in Kontinentaleuropa, würden Parlamentssitzungen mit Gebeten eingeleitet, gäbe es an den Universitäten Kapellen, in denen die Studenten zwischendurch beten könnten.[12]

In Europa seien die Verhältnisse nur in England ähnlich. Velimirović erwähnte den bri­tischen Premierminister Lloyd George (im Amt 1916–1922), der sich auch als Politiker zu seinen baptistischen Wurzeln bekannte und während des Krieges öfter in der Londoner Bloomsbury Chapel predigte. Er habe damit versucht, so Velimirović, die rauhen Sitten der Menschen und ganzer Völker zu besänftigen und der europäischen Zivilisation etwas von ihrem verlorengegangenen Edelmut zurückzugeben. Besonders beeindruckt aber zeigte sich Velimirović von seinen Treffen mit britischen Arbeitern während des Ersten Weltkrieges. Selbst sozialistische Arbeiterführer hätten nichts gegen den Glauben gehabt, sondern seien im Gegenteil religiöse Leute gewesen.

„Wenn ich einen Glauben loben soll”, so Velimiro­vić abschließend, „dann lobe ich die Or­thodoxie, die im Vergleich zum angelsächsischen Protestantismus die größere Vollständigkeit der Lehre und der religiösen Erfahrung bietet. Aber wenn ich die Gläubigen loben soll (…), dann muss ich auf die Stimme meines Gewis­sens hören und den angelsächsischen Nationen meine Achtung aussprechen, vor allem ihren nationalen Führern.”[13]

Aber zurück zu Velimirovićs Propagandareden des Ersten Weltkriegs. In denjenigen Mächten, die das serbisch-jugoslawische Nationalprogramm bedrohten, konnte der junge Theologe keine positiven Züge entdecken. Kontinentaleuropa sah er von gottlosen Eliten belagert, am radikalsten war für ihn der Aufstand der wilhelminischen Eliten bzw. des Übermenschen gegen Gott. In den Feinden Serbiens sah er auch die eingeschworensten Antidemokraten und Feinde der Freiheit – Deutschland und Österreich, Osmanen und Bul­garen. Den Slawen insgesamt attestierte er einen Drang zu Demokratie und Freiheit, neben den Serben hob er Polen und Tschechen hervor.[14] Die Bulgaren fügten sich nicht in dieses Schema. Anstatt zuzugeben, dass der bulgarische Freiheitsdrang mit dem serbischen kolli­dierte, schrieb Velimirović den östlichen Nachbarn biologische Wesenszüge zu, die sie zu ewigen Feinden der Serben machten – sie seien „keine Slawen, sondern wilde Mongo­len”, Opportunisten ohne Freiheitsdrang, gäben sich mal russischem, mal deutschem Ein­fluss hin, hätten aber weder mit der englischen, noch der französischen noch der russischen Zi­vilisation etwas im Sinn. Russland habe ihnen nur den Körper gegeben, den Geist aber hätten sie gemeinsam mit ihrer Monarchie von den Österreichern ausgeliehen. Von daher sei es auch vollkommen falsch, wenn die Engländer den Balkan als einheitliches geistlich-kulturelles Territorium begriffen.[15]

Varnava Rosić äußerte sich auf seiner Russland-Mission ganz ähnlich über Bulgarien. Im Oktober 1916 erklärte Varnava der russischen Zeitung Birževye vedomosti: Der Verrat der Bulgaren an Russland verwundere ihn nicht, denn

„ich erinnere mich noch an meine Studentenzeit hier in Petersburg. Mit mir zusammen stu­dierten einige Bulgaren, die Stipen­dien des russischen Staates hatten. Meine Güte, wie haben sie schon damals alles Russische in den Schmutz gezogen, mit welchem Hass haben sie über Russland gesprochen, dass sie doch befreit hatte (…). Damals war ich jünger und impulsiver, und mich hat diese charak­terlose, stumpfe, schwarze Undankbarkeit zutiefst erschüttert. Und jetzt haben wir die Ergebnisse des bulgarischen Hasses! Undankbarkeit ist ein Zug gemeiner und niederer Naturen.”

Kurz zuvor, bei einer Predigt in der Petersburger Kazaner Kathedrale, hatte Varnava die Bulgaren gar als „Judasverräter”, als „Nichtbrüder” und „Nichtchristen” be­zeichnet, weil sie dem Feind der Slawen die Hand ausgestreckt hätten.[16] Beide Theologen griffen in ihrer Bulgarienpropaganda also tief in das Arsenal des säkularen Nationalismus, wobei ihre Verurteilung durch die Verquickung mit christlichen Motiven noch eine Spur radikaler ausfiel als in der serbischen Elite allgemein.[17]

Velimirović beschrieb das Lager der Feinde Serbiens in unterschiedlichen Schwarztö­nen. Am schlechtesten beurteilte er Österreich und Bulgarien, wogegen das Osmanische Reich milder getadelt wurde. Den Osmanen warf Velimirović Blutrünstigkeit und Gewalt­tätigkeit vor, gegenüber südslawischen Emigranten in New York 1915 verwendete er ein­mal das rassistische Bild vom „gelben asiatischen Ameisenhaufen”, dem sich die Balkan­slawen entgegengestellt hätten, während „Europa ruhig dasaß und das griechisch-römische Erbe aufteilte.”[18] Noch viel schlimmer aber sei die österreichische Herrschaft gewesen, weil „unsere aufrichtige slawische Seele (…) immer lieber mit einem Wolf als mit einem Fuchs zu tun hatte. Und vielleicht auch deswegen, weil das Regime des religiös-gottes­fürchtigen Türken gerechter und leichter war als die Macht der wissenschaftlich-treubrü­chigen und atheistisch-unbeugsamen Deutschen und ihrer ergebenen ungarischen und bulgarischen Diener”.[19] Den Österreichern warf er vor allem vor, sich über die unterent­wickelten Serben lustig gemacht zu haben:

„Für die müßigen Leute aus Wien war es leicht, über unsere Holzkirchen und unsere ungeho­belten Priester zu lachen, über unsere Schulen und Schneiderwerkstätten, über unser Parla­ment, das in einem bescheidenen Kloster tagte, über unsere analphabetischen Fürsten, unsere Minister in Bauernkleidern, über unsere Generäle ohne goldene Schulterklappen und unsere Prinzessinen, die spannen und web­ten.”[20]

Am schwierigsten war die Einordnung Russlands. Auf der slawisch-orthodoxen Skala kam ihm eindeutig die Führungsrolle innerhalb des ‚guten Lagers’ zu. Anders war es bei der Skala Freiheit/Demokratie. Hier zeigte Velimirović, dass er durchaus in der Lage war, zwischen beidem zu unterscheiden – vorausgesetzt, es war diplomatisch opportun. In vielen Vorträgen verwendete Velimirović ‚Demokratie’ im Sinne nationaler Befreiung. Wenn es aber darum ging, den Zuhörern die angebliche serbische Vorliebe für England statt für Russland zu erklären, unterschied er deutlich zwischen beiden Begriffen. Dann erkannte er zwar die Verdienste Russlands bei der Befreiung der übrigen Slawen von deutscher, unga­rischer und osmanischer Fremdherrschaft an. Gleichzeitig warf er dem Zarismus vor, die Slawen in zwei Lager gespalten zu haben, ihnen nur äußere Freiheit zu bringen, aber De­mokratie zu versagen. Die Argumentation lief auf den Schluss hinaus, dass Serbien poli­tisch auf der Seite der Angelsachsen sei, denn nur sie stünden sowohl für Freiheit nach außen als auch für Demokratie nach innen.[21]

Vor einfachen Serben war Velimirović weniger differenziert und feierte den traditio­nellen Russlandmythos – wie in einem 1915 für das serbische Militär verfassten Text, in dem er den Zarismus für die äußere Befreiung der Balkanvölker, aber auch für die Aufhe­bung der Leibeigenschaft lobte.[22] Als Velimirović später im selben Jahr vor südslawischen Migranten in New York sprach, wählte er einen weiteren Zugang. Offenbar um den anwe­senden Kroaten und Slowenen das Bündnis mit Russland schmackhaft zu machen, sprach er über Peter den Großen. Velimirović lobte ihn dafür, aus Russland eine moderne Groß­macht geschaffen zu haben, und bezeichnete ihn als die

„amerikanischste Persönlichkeit, die jemals in Europa gelebt hat. Wenn ich von ‚amerikani­schem Geist’ spreche, meine ich einen Menschen, der die kühnsten, weitesten und optimis­tischsten Pläne schmiedet und dabei mit einem Nachdruck, Energie, und Inspiration zu Werke geht, wie sie sonst nur New York im 20. Jahrhundert gezeigt hat.”[23]

Die in Russland selbst verbreitete orthodoxe Kritik an Peter dem Großen kannte Velimi­rović sicher, denn sie war in seiner Petersburger Studienzeit allgegenwärtig gewesen. Aber er blendete sie aus – mit einem Vernichter orthodoxer Traditionen oder gar einem ‚Anti­christen’ hätte er propagandistisch wenig anfangen können. Was im Russland-Bild stabil blieb, war einzig Dostoevskij, der nach allen Kriterien gut abschnitt – mal als Prophet der Orthodoxie, mal des Slawentums, mal des Allmenschentums und mal der Freiheit.[24]

Trotz des abgestuften Europabilds lassen sich die Anfänge von Velimirovićs späterer, pauschaler Europakritik bis in seine Kriegsreden zurückverfolgen. Als Serbien die schwerste Phase des Krieges überwunden hatte, griff er ‚Europa’ zunehmend als solches an. Seit 1917 warf er den entwickelten Nationen Europas Verlogenheit, Gottlosigkeit und Arroganz vor und machte sie für die Gräuel des Weltkrieges verantwortlich. Auch das verbündete England nahm er dabei nicht aus. In der Londoner St. Margaret’s Church don­nerte er 1917, in diesem Krieg habe sich die „Nichtigkeit der europäischen Zivilisation” gezeigt:

„Die abstoßende Nacktheit Europas hat alle beschämt, die sich vor ihrer falschen Größe ver­neigt hatten. (…) Alles hat sich als verlogen herausgestellt: Kultur, Zivilisation, Fort­schritt, Modernisierung. Das war alles eitles, nichtiges, ärmliches Treiben. Als Europa seine Seele verlor, blieben nur Leere und Zerstörung zurück. Als die Religion schwach wurde und ver­ging, verbreitete sich die Krankheit auf alle Gebiete der menschlichen Tätig­keit. Ruhmsucht wurde mit Kunst maskiert, Egoismus mit Politik, Habsucht mit Rechten, Unglaube und Zwei­fel mit Theologie, spirituelle Verödung mit wissenschaftlich-techni­schem Wissen, stümper­hafter Journalismus mit Literatur, Imperialismus mit zivilisatori­schen Bestrebungen, Gewalt mit dem Kampf für Menschenrechte, Eigenliebe und Stolz mit Individualismus. Und bei alle­dem wurde die Moral zur unwichtigsten Sache der Welt.”

All das sei passiert, weil Europa sich vom Christentum losgesagt und es durch allerlei Irrlehren ersetzt habe, wie Individualismus, Nationalismus, Liberalismus, Konservatismus, Imperia­lismus und Säkularismus.[25]

Aber selbst hier stellte sich Velimirović bemerkenswert flexibel auf den britischen, glo­bal ausgerichteten Diskurs ein. Er begründete seine Vorwürfe gegen Europa nicht christ­lich-exklusiv, sondern brachte sie wie eine postkoloniale Kritik vor. Ihm ging es ganz allgemein darum, dass Zivilisationen ihre Identität verlieren, wenn sie sich von ihrer religi­ösen Tradition lossagen. Nicht nur in der orthodoxen Welt, sondern auch in den koloni­sierten Gebieten Asiens sei Europa unangenehm durch den Verrat an seinen eigenen Tradi­tionen aufgefallen:

„[Europa] eroberte nicht mit Gott und nicht wegen Gott, sondern mit Gewalt und zur eigenen materiellen Bereicherung. Nicht ein einziges Volk auf der Erde war von seiner Spiritualität beeindruckt, aber alle verblüffte sein Materialismus. Seine innere Armut be­merkten Indien, China, Japan und teilweise Russland (…).”

Velimirović sagte seinen Zuhö­rern nicht, wann Europa vom rechten Pfad abgekommen sei, verwies aber ganz ähnlich wie Dostoevskij auf längerfristige Verfehlungen des westli­chen Christentums. Hier sei das Ideal der Heiligkeit untergegangen:

„Soll der Vatikan sich mit Heiligen füllen, dann braucht man nicht mehr von Unfehlbarkeit zu faseln oder sie aufzudrängen. Sie wird dann von selbst kommen. (…) Die Bischöfe von Rom oder Canterbury werden erst dann unfehlbar, wenn sie heilig werden. (…) Möge die Herde der Ostkirche mit ganzem Herzen sein christliches Ideal der Heiligkeit verinnerlichen.”

Erst dann könne Europa seiner missionarischen Auf­gabe nachkommen und erwarten, dass sich Inder oder Araber auf die europäische Kultur einlassen.[26]

 

Autor Klaus Buchenau je istoričar jugoistočne Evrope i radi na Univerzitetu u Minhenu (LMU München). Objavio je mnogo radova iz istorije religija na prostorima bivše Jugoslavije. Ovaj tekst je izvod iz njegove doktorske disertacije koju je odbranio na Slobodnom univerzitetu u Berlinu 2010 godine  i koju je objavio 2011 godine pod nazivom „Auf russischen Spuren. Orthodoxe Antiwestler in Serbien, 1850-1945“ u izdavačkoj kući Harrassowitz  http://www.harrassowitz-verlag.de

 


[1]    Der Allmensch kommt auch 1912 schon vor (Velimirović, Niče i Dostojevski, a.a.O.; Besede pod gorom, a.a.O., S. 28 (in der Predigt O veri u mrak). Voll ausgearbeitet hat er die Idee allerdings erst im Ersten Weltkrieg, eine Monographie dazu erschien 1920 (Reči o Svečoveku (1920), in: Sabrana dela, Bd. 4, S. 587–762).

[2]    The Soul of Serbia (London 1916), in: Sabrana dela, Bd. 3, S. 277–372, hier S. 307, 309f., 315.

[3]    Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, § 5, zitiert nach der Internetversion unter http://www.thenietzschechannel.com/works-pub/anti/antig.htm, Download 20.9.2012; Assen Ignatow: Der Teu­fel und der Übermensch, Die Antizipation des Totalitarismus bei Dostojewski und Nietzsche, Stuttgart 1989.

[4]    Vgl. Rolf Peter Sieferle: Die Konservative Revolution, Fünf biographische Skizzen (Paul Lensch, Werner Sombart, Oswald Spengler, Ernst Jünger, Hans Freyer), Frankfurt a.M. 1995.

[5]    Velimirović, The soul of Serbia, a.a.O., S. 309.

[6]    Bigović, Od svečoveka do bogočoveka, a.a.O., S. 54f., 176–178. Dimitrije Mitrinović (1887–1953) war vor dem Ersten Weltkrieg Herausgeber der bosnischen Literaturzeitschrift Bosanska vila. Nach einem Studium der Kunstgeschichte in München kam er 1914 nach London, wo er in der serbischen Gesandtschaft arbeitete. Mit der Vorstellung vom Allmenschentum operierte in der Zwischenkriegs­zeit auch der Philosoph Vladimir Dvorniković; er baute es in sein unitaristisches Gesellschaftskon­zept ein und schrieb der patriarchalen Bauerngesellschaft allmenschliche Züge zu (Stojković, Filozo­fija istorije, a.a.O., S. 329).

[7]    Bigović, Od svečoveka do bogočoveka, a.a.O., S. 32, 153, 162, 168

[8]    So die kluge Deutung Luka Smodlakas 1940 in Danica (nach Janković, Episkop Nikolaj, Bd. 2,       S. 345).

[9]    Janković, Episkop Nikolaj, Bd. 2, S. 96.

[10] Velimirović, Serbia in Light and Darkness, a.a.O., S. 438–441; ders.: Slav Orthodoxy (1916), in: Ders., Sabrana dela, Bd. 3, S. 215–228, hier S. 224.

[11] Velimirović, The soul of Serbia, a.a.O., S. 295; Ders.: Anglosaksonski političari i vera (1923), in Ders: Sabrana dela, Neuausgabe, Bd. 4, Linz 2001, S. 833–843.

[12] Anglosaksonski političari i vera, a.a.O., S. 833–837; diese Thesen hat Velimirović bei anderen Gelegen­heiten wiederholt. Bei einem Bankett in New York 1927 betonte er vor versammelter Promi­nenz, trotz des großen Wohlstands gäbe es in Amerika mehr spirituellen Durst. Er hoffe, dass die USA mit ihrer geistlichen Größe der Welt den Weg der Rettung zeigen (Američki Srbobran v. 3.11.1927, zit. nach Janković, Episkop Nikolaj, Bd. 1, S. 99f.).

[13]  Anglosaksonski političari i vera, a.a.O., S. 838, 843.

[14] Nikolaj Velimirović: Slav revolutionary catholicism, in: Sabrana dela, Bd. 3, S. 229–239, hier          S. 232–235.

[15] Velimirović, The soul of Serbia, a.a.O., S. 368; Serbia in Light and Darkness, a.a.O., S. 500, 522.

[16]            Majevski, Patrijarh Varnava i njegovo doba, a.a.O., S. 197.

[17] Zu den antibulgarischen Stereotypen serbischer Intellektueller vor 1945 s. Olivera Milosavljević: U tradiciji nacionalizma ili stereotipi srpskih intelektualaca XX veka o “nama” i “drugima”, Beograd 2002, S. 232–247.

[18] Velimirović, The soul of Serbia, S. 278f., 354, 356f.

[19] Ebd., S. 354.

[20] Ebd., S. 358.

[21] Ebd., S. 295, 359, 362; Serbia in Light and Darkness, S. 436, 448–451.

[22] Nikolaj Velimirović, Slovensko vreme, in Sabrana dela, Bd. 3, S. 211–212.

[23] Nikolaj Velimirović: Ustanak robova (1915), in: Sabrana dela, Bd. 3, S. 21–50, hier S. 27f.

[24] Nikolaj Velimirović: The religious spirit of the Slavs, in Sabrana dela, Bd. 3, S. 241–250, hier          S. 242–247.

[25] Velimirović: The Agony of the Church, a.a.O., S. 83; s. auch dens., The spiritual rebirth of Europe (1919), in: Ders., Sabrana dela, Bd. 3, S. 657–696.

[26] Velimirović, The Agony of the Church, a.a.O., S. 83f. Diese postkoloniale Attitüde findet sich auch in späteren Schriften Velimirovićs, s. etwa seine Monographie Rat i biblija von 1928 (Neuausgabe Beograd 1997, S. 124, 126, 143f., 147).

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Celokupan istorijski feljton na nemačkom jeziku o vladici Nikolaju Velimiroviću koji smo objavili u 4 dela do sada, u pdf formatu (32 strane) se može skinuti sa linka odavde: 

Nikolaj Velimirović – Nachwuchstheologe zwischen Ost und West by Dr Klaus Buchenau